In den Ferien wird der Mensch zu dem, der er hätte sein können (2024)

Der englische Schriftsteller R.C. Sherriffs hat 1931 einen grossartigen Roman über eine Familie in ihrem Sommerrefugium geschrieben. Nun kann er in neuer Übersetzung wiederentdeckt werden. Er liest sich noch heute mit grossem Vergnügen.

Rainer Moritz

5 min

In den Ferien wird der Mensch zu dem, der er hätte sein können (1)

Als 2020, mitten im Lockdown, der britische Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro nach seinem liebsten Trostbuch gefragt wurde, zögerte er nicht lange: R.C. Sherriffs «Zwei Wochen am Meer». Es gebe, so Ishiguro, kaum einen anderen Roman, der die «schöne Würde» des Alltagslebens feinfühliger einfange. Das Buch erzählt die Geschichte der Familie Stevens aus dem Londoner Süden, die sich seit Jahr und Tag zumindest in einem einig ist: Im September bricht man für zwei Wochen Strandferien in das sechzig Meilen entfernte Seebad Bognor Regis auf. Eine Abweichung von dieser Tradition ist für alle Beteiligten undenkbar.

Der englische Schriftsteller R.C. Sherriff (1896–1975) erlebte Ende der 1920er Jahre mit dem im Ersten Weltkrieg angesiedelten Stück «Journey’s End» seinen Durchbruch als Theaterautor und erntete über Jahre hinweg Erfolge als Dramatiker und Drehbuchschreiber – eine Karriere, die ihn bis nach Hollywood führte. Zudem veröffentlichte er regelmässig Romane, sein zweiter – «Zwei Wochen am Meer» (im Original: «The Fortnight in September») – erschien 1931. Bereits wenig später lag bei S.Fischer die deutsche Übersetzung «Badereise im September» des umtriebigen Thomas-Mann-Freundes Hans Reisiger vor.

In den Ferien wird der Mensch zu dem, der er hätte sein können (2)

Dass der Unionsverlag nun den Schriftsteller Karl-Heinz Ott beauftragt hat, Sherriffs Ferienroman neu zu übertragen und mit einem – klugen, informativen – Nachwort zu versehen, ist ein Glücksfall. Denn selten findet man eine Prosa, die sich derart unangestrengt, unprätentiös und stilsicher darauf einlässt, einen überschaubaren Kosmos in allen Nuancen zu beschreiben, einen Kosmos, der auf den ersten Blick nicht der Rede wert scheint.

Komplexe Reisevorbereitungen

«Ich wollte über einfache Menschen schreiben, die normale Dinge tun» – so formulierte Sherriff selbst seinen Anspruch, als er sich voll und ganz auf die kleinbürgerliche Welt der Stevens einliess. Seit zwanzig Jahren sind Ernest und Flossie Stevens verheiratet. Drei Kinder – Ernie, Dick und Mary – komplettieren die Runde, die sich auf unspektakuläre Weise den Herausforderungen des Lebens stellt.

Ernest arbeitet als Angestellter; seine Frau kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Auf grossem Fuss lebt man nicht, doch wenn es um das wichtigste Ereignis des Jahres, die zweiwöchigen Ferien, geht, gönnt man sich das eine oder andere Vergnügen – eine Sonderration Ginger-Ale, eine Flasche Portwein für Mutter Stevens oder eine «bessere» Strandhütte –, die das Budget bis ans Äusserste ausreizen.

Wer es gewohnt ist, in Strand- und Sommerromanen mit Intrigen, Gefahren oder Liebesverwicklungen konfrontiert zu werden, wird sich über Sherriffs «Zwei Wochen am Meer» wundern. Denn in diesem wunderbar langsam erzählten Buch passiert herzlich wenig. Das Augenmerk liegt auf den simplen Verrichtungen des Alltags, den marginalen familiären Konflikten und den meist verschwiegenen emotionalen Turbulenzen. Dass sich das Leben aus zahllosen winzigen Elementen zusammensetzt, demonstriert dieser mit leichter Hand verfasste Roman geradezu spielerisch.

Eine Ferienreise ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Wer sein Zuhause für zwei Wochen verlässt, muss vieles bedenken. Glücklicherweise hat der gutmütige Patriarch Ernest alles im Griff. Mit leicht neurotischer Akribie formuliert er eine «Marschordnung», die jedem Familienmitglied ferienvorbereitende Aufgaben zuteilt. Wer bestellt die Lieferanten ab? Wer dreht den Gashahn zu? Wer bringt das Silberbesteck in Sicherheit? Und wer erledigt die unangenehme Pflicht, den Kanarienvogel bei der geschwätzigen Nachbarin abzugeben?

Es dauert seine Zeit, bis all das erledigt ist, bis die Sandwiches geschmiert sind, bis man es zum Bahnhof geschafft hat, ohne einen Koffer zu verlieren, und bis man im Zustand der Erschöpfung sein Ziel heil erreicht hat. Logisch also, dass bereits ein Drittel des Romans hinter einem liegt, bis die Stevens endlich am Meer, in ihrer von der Witwe Huggett betriebenen Stammpension «Seaview», angelangt sind.

In einer grandios ausgebreiteten Umständlichkeit macht Sherriffs Roman vor allem deutlich, welches Abenteuer vor knapp einhundert Jahren, zur Blütezeit der englischen Badeferien, eine Sommerfrische bedeutete. Diese hat zu kompensieren, was die übrigen fünfzig Wochen eines Jahres den meisten vorenthalten.

«In den Ferien wird der Mensch zu dem, der er hätte werden und der er hätte sein können, wären die Dinge ein wenig anders gekommen.» Allein in diesem en passant eingestreuten Satz zeigt sich, mit welchem Ernst und welcher Menschenfreundlichkeit der Autor seine Figuren behandelt. Nie macht er sich über sie lustig, so harmlos ihre Ängste und Sehnsüchte sein mögen.

Kleinere und grössere Kämpfe haben sie alle auszustehen. Mutter Stevens tut den Teufel, ihrer Familie zu gestehen, dass sie sich eigentlich vor dem Meer und den Ferien fürchtet. Ihr Mann hat die Rückschläge seines Lebens – den eher unfreiwilligen Rückzug vom Schriftführeramt im Fussballverein, die fehlende Aussicht auf eine berufliche Karriere – nur halbwegs verkraftet. Die Ferien sollen das vergessen lassen, wäre da nicht die plötzlich aufkommende Furcht, einen Bürovorgang nicht ordnungsgemäss weitergeleitet zu haben.

Die heimlichen Begierden

So vergehen die beiden Wochen in Bognor in friedlich-aufgeräumter Stimmung. Man begibt sich an die Promenade und ins Wasser, man spielt Cricket und übersieht geflissentlich, dass Mrs Huggetts Pension in die Jahre gekommen ist. Sich zu beschweren, das kommt nicht in Betracht, denn im nächsten Jahr will man auf jeden Fall wieder seine Zelte dort aufschlagen. Das Glück braucht Verankerung.

Die zwanzigjährige Mary bändelt heimlich mit einem etwas windigen Schauspieler an, wohingegen ihr drei Jahre jüngerer Bruder Dick ebenso heimlich mit dem Arbeitsplatz hadert, den ihm sein Vater verschafft hat. Und dann gibt es da noch die ganz verschwiegenen, zum Glück nicht auserzählten Begierden: Der grundbrave Vater Stevens, der abends gern auf ein Bier im Pub einkehrt, kommt nicht umhin, sich einzugestehen, dass ihn die Barfrau Rosie anzieht.

Das führt allerdings zu einem sehr ungewohnten psychischen Aufruhr: «Weder konnte noch wollte er leugnen, dass sie seine niederen Instinkte weckte. Weil bei ihm diese niederen Instinkte jedoch gottlob nicht so niedrig waren wie bei anderen Männern, machten ihm seine Gefühle für Rosie keine wirkliche Angst.»

«Zwei Wochen am Meer» ist ein in jedem Satz stimmiger Roman über die kleinen Dinge des Lebens. Dass diese zugleich mit den grossen Erwartungen der Menschen zu tun haben, lässt sich Seite für Seite nachempfinden. R.C. Sherriff ist damals fraglos ein Meisterwerk geglückt. Es liest sich noch heute mit ebenso viel Vergnügen wie Gewinn.

R.C. Sherriff: Zwei Wochen am Meer. Roman. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott. Unionsverlag, Zürich 2023. 347S., Fr.35.90.

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Author: Maia Crooks Jr

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